Die Entwicklung des Projekts \(\mathbb{M}\)ATh lief auf verschlungenen Pfaden. So war die erste Version des zugehörigen Programms nur in der Lage, Beweise im Bereich der Aussagenlogik und Mengenlehre zu überprüfen. Die Erschließung weiterer mathematischer Theorien war im Programmkonzept sehr mühsam, da jeweils eine Programmerweiterung für die neuen Objekte der Theorie benötigt wurde, bevor man damit argumentieren konnte. In der Praxis ist aber das Schaffen neuer Objekte durch Definitionen ein Prozess, der mit dem Beweisen von Eigenschaften zwischen diesen Objekten in einem engen und dynamischen Wechselverhältnis steht.
Verkürzt gesagt steckte hinter dem ersten Zugang die Sichtweise, dass Mathematik hauptsächlich Beweisen bedeutet, was sicherlich auch dem vorherrschenden Eindruck der Mathematikstudierenden entspricht. In der Praxis stellt sich die Situation aber eigentlich ganz anders dar: Bevor irgend etwas bewiesen werden kann, muss erst ein mathematischer Kontext vorhanden sein, in dem sich eine sinnvolle mathematische Frage formulieren lässt.
Historisch gesehen waren diese Kontexte sehr häufig Abstraktionen von Zusammenhängen, die in der Welt beobachtet wurden und das präzise Beschreiben dieser Zusammenhänge würde man heute als mathematische Modellierung bezeichnen. Innermathematisch entspricht das Herauspräparieren von Ausgangsobjekten und -situationen gerade dem Definieren.
Damit steht Modellieren bzw. Definieren am Anfang der Geschichte und erst wenn sinnvolle Objekte erkärt sind, kommt die mathematische Argumentationssprache hinzu, um in den Modellsituationen Antworten auf Fragen oder neue Zusammenhänge zu entdecken.
Wenn man sich die Bedeutung des Definierens klar gemacht hat, ist es eigentlich erstaunlich, dass diesem Aspekt an der Universität in der Regel keine eigene Lehrveranstaltung gewidmet ist. Dem selbständigen Definieren wird auch auf den wöchentlichen Übungsblättern kaum Beachtung geschenkt. Definieren ist etwas, das scheinbar immer nebenher abläuft.
Tatsächlich ist Definieren aber keineswegs ein Selbstläufer. Das sieht man schon in der Schulmathematik, wo Textaufgaben bekanntlich von vielen Schülern und Schülerinnen gefürchtet werden. Textaufgaben sind aber gerade Modellierungsaufgaben: Aus einem umgangssprachlichen Text muss eine mathematische Struktur mit gewissen Objekten (Zahlen, Mengen, Funktionen) gebildet werden. Das eigentliche Lösen der Problemstellung ist dann eine normale Aufgabe, weil nun wieder rezeptartig mit den vorhandenen Objekten gearbeitet werden kann. Die Furcht vor Textaufgaben ist also eine Furcht vor dem Scheitern beim Definieren. Diese Furcht sollte dadurch bezwungen werden, dass man den Prozess des Modellierens bzw. Definierens rationalisiert und genauer versteht.
Die Entwicklung eines systematischen Zugangs zum Definieren im Rahmen von \(\mathbb{M}\)ATh mündete in die Neugestaltung der Vorlesung Modellierung an der Universität Konstanz. Diese Vorlesung ist für das zweite Semester vorgesehen, mit dem Ziel, reale Anwendungen für unterschiedliche mathematische Konzepte vorzustellen. Da die Studierenden im zweiten Semester aber erst wenig mathematische Kenntnisse besitzen, ist ein vollständiges theoretisches Durchdringen interessanter Modelle zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich. Im neuen Ansatz wurde deshalb das Formulieren der Modelle (und damit das Definieren) in den Fokus gerückt. So ist es durchaus möglich, einen Sachverhalt mit Differentialgleichungen zu beschreiben, ohne die Theorie der Differentialgleichungen zu kennen, oder ein Optimierungsproblem zu formulieren, ohne etwas von dessen Lösbarkeitstheorie zu wissen.
Die Erfahrung mit dem neuen Format zeigt deutlich, dass die präzise Formulierung von mathematischen Objekten, Aussagen und Rahmenbedingungen für viele Studierende eine schwierige Aufgabe darstellt und tatsächlich Training verlangt.
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